Heft Nr. 41 • April 2019 • SCHWERPUNKT: BEWEGTES LEBEN

Heft 41
Heft 41 xs
 
Inhalt (Auszug):
Ernst Peter Fischer: Die bewegten Beweger – Energie, Evolution, Entwicklung und das werdende Werden
Dieter Schnocks: Libido – die treibende Kraft in uns | Das Energiekonzept von C. G. Jung
Dieter Knoll: Elementarbewegungen | Auf die Weisheit unseres Körpers achten lernen
Brigitte Thüringer-Dülsen und Marc Dülsen: Ironman – Ein heroischer Weg der Suche nach sich selbst
Sabine Grumann: „Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.“ | Mystische Aspekte in der Symbolik des Tanzes
Gidon Horowitz: Bis zum Umfallen – Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel
Thomas Schwind: Gehen in der Wüste – Aufbruch, Umbruch, Paradoxien des Lebendigen
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Aufklärung braucht Balance
Johannes Dürr: Was soziale und andere Bewegungen bewegt
Sigrid Voss: Bewegt bewegend – Bewegend bewegt | Gedanken zum Thema „Frauenbewegung – was hat sich verändert, was ist geblieben?
Walter Hollstein: Männerbewegung wohin? Versuch einer Bestandsaufnahme
Martin und Sabine Knoke: Migration als äußere und innere Bewegung
Marco Wehr: Mehr Mut zu Mut

GLOSSE
Bernd Leibig: Erkenntnisdrang und Stuhldrang
 
Editorial:
 
Liebe Leserinnen und Leser,

das für uns erste sichtbare Zeichen dafür, ob etwas lebendig ist, ist Bewegung. Wenn ein Körper vor uns liegt und wir können sehen, dass er sich bewegt, dass er pulsiert, atmet, dann wissen wir: Das sind Lebenszeichen, der Körper ist lebendig, der Organismus lebt.

Aber oft ist es doch so, dass wenn wir dem vermeintliche Alltäglichen und Gewöhnlichen begegnen, wir wenig Besonderes daran finden. Wir verspüren kaum Lust, solchen Phänomenen unsere besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei stoßen wir hier - wie so oft, wenn wir es nur zulassen - fortwährend auf die für uns kaum fassbaren Wunder unserer Existenz in unserer Welt.

Stellen wir uns nur einmal vor: Da gibt es die rasende Bewegung der kleinsten elementaren Einheiten in uns, die sich zu Atomen und Molekülen formieren, zu Zellen verbinden, in denen in jeder Sekunde im Abgleich mit den Genstrukturen millionenfache Austauschprozesse stattfinden, die wiederum den Aufbau von Knochen, Sehnen, Muskeln, Organen, Flüssigkeiten, Hormonen und Transmitterstoffen ermöglichen, die wiederum das gesamtpsycho-somatische System in Bewegung halten: Atmung, Blutfluss, Wasserhaushalt, Temperatur, Nahrungsaufnahme, Verdauung, Stoffwechsel, Immunsystem, neuronale Netzwerke usw. usw. Alles dauernd in Bewegung, aufbauend, abbauend, sich erneuernd, absterbend, sich selbst organisierend und steuernd durch etwas, was wir nicht kennen und auch in seiner Komplexität und Wechselwirkung niemals erfassen können! Ist das nicht atem-beraubend? Und kann man sich vorstellen, dass es Zeiten gab, wo dieses Wunderwerk unserer Organismus abgewertet, asketisch unterdrückt und abgetötet werden sollte zugunsten einer vermeintlichen „höheren“, „geistigeren“ Lebensweise?

Und dann noch die unendliche Vielgestaltigkeit der motorischen Bewegungen unseres Körpers! Dieses geniale Knochen-Muskel-Sehnen-System, das uns Hören, Sehen, Tasten, Laufen, Sprechen, Tanzen lässt!

Evolutionär wird die Aufrichtung unserer Vorfahren als eine der bedeutsamsten Errungenschaften betrachtet, die spezifisch menschliche Entwicklungen ermöglichten. U. a. scheint die Aufrichtung deshalb so zentrale Bedeutung zu haben, weil sie den Vormenschen in die Lage versetzte, Kopf und Augen sowie Arme und Hände auf ganz neue Art miteinander zu koordinieren. Affekte und Emotionen, sprachliche, geistige, kulturelle, emotionale, soziale Impulse können auf ganz neue Weisen geformt, gestaltet und kommuniziert werden werden und bringen dadurch Entwicklungen in bis dahin nicht gekannten Ausmaßen hervor. Im Grunde entstand alle Kultur aus der Fähigkeit, Körper und Motorik nicht nur zur Bewältigung unserer äußeren Lebensbedingungen im Sinne der biologischen Selbst- und Arterhaltung einzusetzen, sondern auch seine innere Welten, das, was ihn von Innen heraus bewegt, in Kooperation mit anderen Menschen in die Welt zu bringen.

Doch was sollen wir jetzt hier noch viel denken und reden: Richten wir uns auf, stehen wir auf, spüren wir die Festigkeit der Erde unter uns, die uns Halt gibt, wenden wir uns dem Himmel und der Sonne zu, atmen wir tief ein und aus, seufzen wir und lachen wir, drehen wir uns im Kreise, tanzen und singen wir und freuen uns mit allen Fasern unseres Leibes daran, dass wir spüren, dass wir lebendig sind und uns frei bewegen können. Und schenken wir unser tiefstes Mitgefühl allen Wesen, die das nicht können oder dürfen.

O welche Lust, o welche Lust, in freier Luft
den Atem leicht zu heben!
O welche Lust!
Nur hier, nur hier ist Leben ...
(Beethoven, Fidelio, Gefangenenchor)
 
Ihre
Anette und Lutz Müller