JungJournal
JungJournal
JungJournal
Forum für Analytische Psychologie und Lebenskultur
Forum für Analytische Psychologie und Lebenskultur
Forum für Analytische Psychologie
und Lebenskultur

NEU: PDF-Abo und Zugang zum PDF-Archiv für alle Abonnenten

HEFT-Abo
2 Hefte pro Jahr frei Haus & kostenloser Zugriff auf das PDF-Archiv
Heft abonnieren
PDF-Abo
2 PDF-Ausgaben pro Jahr & kostenloser Zugriff auf das PDF-Archiv
PDF abonnieren
Bestehende Heft-Abos:
Bestehende Heftabonnenten können hier einen kostenlosen ...
PDF-Zugang beantragen

Heft 39: Lüge und Wahrheit

PDF-Datei:
3.71 MB
Heft 39
 
März 2018  SCHWERPUNKT: LÜGE UND WAHRHEIT
 
  • Ernst Peter Fischer: Das Vergnügen beim Betrügen • Vom Fälschen in den Hallen der Wissenschaft
  • Maretta Steigenberger: „Das war ich nicht!“ • Lüge und Wahrheit in der kindlichen Entwicklung
  • Irene Berkenbusch: Jakob, der Lügner – Verbreiter von Fake News?
  • Gidon Horowitz: „Erzähl mir doch kein Märchen!“ • Und warum wir sie doch immer wieder gerne hören
  • Christiane Lutz: Mythos und Wahrheit
  • Lutz Müller: Hermes-Mercurius – Trickreicher Götterbote, Seelenführer und zentrale Symbolgestalt des medialen Zeitalters
  • Hilmar Schmiedl-Neuburg: Trickster an den Grenzen der Welt • Der Mythos des Utgardloki
  • Ingrid Riedel: Theresa von Ávila • Auf der Suche nach innerer Wahrheit
  • Johannes Dürr: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ • Gewissensfreiheit, Wahrhaftigkeit und innere Überzeugung oder auch: „Was ist Wahrheit?“
  • Jürgen Wertheimer: Grenzen setzen. Grenzen abbauen

  • FÜR SIE GESEHEN - Dieter Volk: „Frantz“ – oder Die Kraft der Lüge • Ein Film von François Ozon (2016)
  • BERICHT - Margarete Leibig: Symposium „Lüge und Wahrheit“

Editorial
 
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist kein leichtes Unterfangen, sich mit der Psychologie der Lüge und Wahrheit, der Selbst- und Fremdtäuschungen zu beschäftigen, denn es liegt im Wesen jeder perfekten Täuschung, dass sie nicht als Täuschung erkannt wird und sich mit den trickreichsten Mitteln unserer Beobachtung entzieht.
 
Auf den ersten Blick scheint es so zu sein – und hier beginnt bereits die große Täuschung! –, dass Täuschung nur ein Randphänomen des menschlichen Seins ist, etwas, was einem nur gelegentlich zustößt und was sich dann, wenn man es bemerkt hat, mehr oder weniger leicht auflösen lässt.
 
Im Großen und Ganzen nehmen wir an, dass das Bild, das wir von uns selbst und der Welt haben, richtig ist. Wir glauben, dass sich dieses Bild einigermaßen mit der „wirklichen Wirklichkeit“ eines Sachverhaltes deckt, dass die Wirklichkeit so ist, wie wir sie erleben und dass andere Menschen eher falsche Auffassungen haben, weshalb es uns auch im Konfliktfall meist scheint, dass die anderen Menschen an Allem schuld sind und dass es vor allem die anderen sind, die sich ändern müssen. Wir haben den Eindruck: „Wenn alle Menschen so wären wie ich, dann wäre die Welt in Ordnung.“
 
Es tut sich aber rasch ein unheimlicher Abgrund auf, wenn man nur ernsthaft der Frage nachgeht, wo uns denn überall Täuschungen begegnen, wo wir uns denn selbst und wo wir andere Menschen täuschen. Wir entdecken dann, dass Täuschung ein universales Phänomen ist: Unser Dasein ist innigst und untrennbar mit Täuschungen ungeahnten Ausmaßes verwoben, und es ist eigentlich verwunderlich, dass uns das so wenig bewusst ist.
 
Täuschung erscheint bei näherer Betrachtung sogar als eine conditio sine qua non, eine notwendige Bedingung menschlicher Existenz und menschlichen Bewusstseins. Dies vor allem deswegen, weil uns die Erkenntnis einer „letzten Wahrheit“ oder einer „wirklichen Wirklichkeit“ prinzipiell nicht zugänglich ist und wir immer nur auf psychische Bilder und Vorstellungen zurückgreifen können.
 
Diese Vor-Stellungen sind notwendigerweise auch Ver-Stellungen. Sie stellen sich selektierend, filternd, modifizierend, transformierend, kreierend, konstruierend, systematisierend, vereinfachend und in tausend Formen sich wandelnd zwischen uns und das, was außen und innen »wirklich« ist, was wir aber als solches nicht erkennen können.
 
Es ist meine bilderreiche Seele, die der Welt Farbe und Ton verleiht, und was jene allerrealste, rationale Sicherheit, die Erfahrung anbelangt, so ist auch ihre einfachste Form noch ein über alle Maßen kompliziertes Gebäude seelischer Bilder: So gibt es gewissermaßen nichts von unmittelbarer Erfahrung als nur gerade das Seelische selbst. Alles ist durch dasselbe vermittelt, übersetzt, filtriert, allegorisiert, verzerrt, ja sogar verfälscht. Wir sind dermaßen in eine Wolke wechselnder und unendlich vielfach schillernder Bilder eingehüllt, daß man mit einem bekannten großen Zweifler ausrufen möchte: „Nichts ist ganz wahr - und auch das ist nicht ganz wahr.“
Jung, GW 8, § 623
 
Die indische Vedanta-Philosophie hat vermutlich etwas Ähnliches schon früh geahnt und dafür den komplexen Begriff der Maya geprägt. Maya, gebildet aus der Wurzel ma – messen, formen, gestalten –, bezeichnet die umfassende Daseins-Illusion als Folge der Unwissenheit und Verblendung, durch die unsere trügerischen Sinne uns das „wahre Sein“ verdecken.
 
Auch schon andere frühere und spätere Philosophen haben geahnt, dass es mit dem, was wir Wirklichkeit und Wahrheit nennen, nicht so ganz einfach ist. Denken wir beispielsweise an Platos Höhlengleichnis, das Nichtwissen des Sokrates oder an Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Vor bereits 147 Jahren schrieb Friedrich Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn auf seine typisch provokante und zugleich psychologisch tiefsichtige Art:
 
Was wißt Ihr davon..., wieviel List der Selbsterhaltung, wieviel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbstbetrug enthalten ist – und wieviel Falschheit mir noch nottut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner „Wahrhaftigkeit“ gestatten darf? Das Leben will Täuschung, es lebt von der Täuschung.
 
Wenn uns das bewusst wird, können wir auch besser verstehen, wieso menschliche Kommunikation so kompliziert und missverständlich ist. Wir können nie wirklich wissen, in was für einer psychischen Welt sich unsere Kommunikationspartner gerade befinden und auch unsere eigenen „wirklichen“ Vorgänge, die in uns gerade stattfinden, sind uns nur zum kleinsten Teil bewusst. Die unbewussten Abwehr- und Organisationsmechanismen der Psyche arbeiten so rasch und perfekt, dass wir nicht merken, wie schnell wir uns selbst „hinters Licht“ geführt haben.
 
Vor dem Hintergrund dieser Einsichten wird es verständlich, warum es bisher so schwer war, in Religion, Philosophie und Psychologie zu einer gemeinsamen und eindeutige Definition von Wahrheit zu kommen.
 
Aber »Was ist Wahrheit«? Ich würde für unseren psychologischen Gebrauch zunächst ganz auf den Gedanken verzichten, daß wir heutigen Menschen überhaupt imstande seien, etwas „Wahres“ oder „Richtiges“ über das Wesen der Seele auszumachen. Das Beste, was wir hervorbringen können, ist wahrer Ausdruck. ›Wahrer Ausdruck‹ ist ein Bekenntnis und eine ausführliche Darstellung des subjektiv Vorgefundenen.
Jung, GW 4, § 771
 
Auch der Pionier des Konstruktivismus, Heinz von Foerster, will in einem Interview mit der Überschrift Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners von dem Begriff der Wahrheit ganz wegkommen:
 
Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben. [...]
Ich will noch einmal betonen, dass ich im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien stören die Beziehungen von Mensch zu Mensch, sie erzeugen ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen werden. Es entsteht Feindschaft. Man sollte diese Begriffe einfach nicht mehr verwenden, da sie, so behaupte ich, durch die bloße Erwähnung und auch durch die Verneinung oder Ablehnung am Leben erhalten werden.

Foerster, Die Zeit, 4/1998
 
Wenn wir auch vor diesen erkenntnistheoretischen Hintergründen mit dem Begriff der Wahrheit sehr vorsichtig umgehen müssen, sind wir gleichzeitig im sozialen Miteinander auf ein gutes Maß von Vertrauen, Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit angewiesen. Dies gelingt uns aber nur in einem gewissen mittleren Grade, weil soziale Anpassungs-Notwendigkeiten und Eigeninteressen oft in einem konflikthaften Widerspruch zueinander stehen.
 
Auch in der praktischen Psychotherapie scheint es von daher nicht um absolute Wahrheiten und endgültige Einsichten zu gehen, sondern man bewegt sich oft eher im Grau-und Übergangsbereich zwischen sogenannten „harten Fakten“ einerseits und Konstruktionen, Fantasien, Märchen, Mythen und Symbolen andererseits. Letztere sind ja nicht „wirklich“ „wahr“, sondern es sind psychische Realitäten, die gerade deshalb hilfreich sind, weil sie nicht ganz wahr sind und Spielraum für Fantasie und hermeneutische Interpretationen lassen.
 
So wünschen wir uns und Ihnen, dass es uns gelingen möge, mit Lüge und Wahrheit jeweils so gut umzugehen, dass wir anderen Menschen wie auch uns selbst nicht schaden.

Ihre
Anette und Lutz Müller
 
 
Powered by Phoca Download
­
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste - insbesondere des Logins. Mit der Nutzung unserer Webseite erklären Sie sich mit technisch notwendigen Cookies einverstanden.